Das bedingte Entstehen
oder auch Entstehen in Abhängigkeit
Man kann sagen: Buddhistische Meditation ist das reine, urteilslose Beobachten der Bewegungen unseres Geistes, welches dazu führt, die unpersönliche Natur des Entstehensprozesses von Gedanken, Gefühlen oder Emotionen, so wie die gesamte Kette des Bedingten Entstehens ihn darlegt, und die Vier Edlen Wahrheiten zu verstehen. Es geht um Erkenntnis der Wahren-Natur der Dinge.
Ein Bestandteil von harmonischer Ansicht (dem ersten Glied des Edlen Achtfachen Pfades: dazu unten mehr) ist auch das Verständnis von Karma[1]: Ausnahmslos alles, was geschieht, unterliegt einem einzigen Prinzip, nämlich dem der Ursache und Wirkung. Dieses Prinzip wirkt im „Außen“ (wenn ich einen Ball trete, fliegt er weg; unter bestimmten Umständen fängt es an, aus Wolken zu regnen), wie im „Innen“ (wenn ich mir den Zeh stoße, entsteht Schmerz in mir). Das Prinzip lautet also:
Was immer geschieht, geschieht, weil (unter allen Umständen, die hätten vorliegen können) genau die Umstände vorlagen, die zum konkreten Entstehen des Ereignisses geführt haben.
Wie aber wird aus einem Ereignis, einem einfachen Vorgang, Leid? Das war die Frage, die den Buddha Gautama beschäftigt hat, als er sich vor 2500 Jahren unter einen Baum setzte und sich vornahm, erst wieder aufzustehen, wenn er auf diese Frage eine Antwort gefunden haben würde. Das Ergebnis, zu dem er kam, nannte er das „Bedingte Entstehen“ oder das „Entstehen in Abhängigkeit“. Mit diesem wollen wir uns nun beschäftigen:
Nach buddhistischer Lehre gibt es 6 Sinne (Sinnestore), Auge, Nase, Mund, Ohr, Tastsinn und das Denken (!). Diesen Sinnestoren zugeordnet sind 6 Sinnesobjekte: Farbe/Form, Geruch, Geschmack, Geräusch, Tastobjekt und Denkobjekt (= Thema, z.B. eine Erinnerung). Trifft jeweils ein Sinnestor auf ein Sinnesobjekt, so entsteht Sinnesbewusstsein (hier NICHT im Sinne einer intellektuellen Verarbeitung!). Sinnestor + Sinnesobjekt + Sinnesbewusstsein = Sinneskontakt
Die sechs Sinnestüren ist sind Bedingung für das
Entstehen von Kontakt (phassa)
Beispiel: Das gesunde Auge trifft auf Form und Farbe eines Gegenstandes. Diese Information wird verarbeitet und es entsteht so genanntes Seh-Bewusstsein. Wenn dieser Kontakt (zwischen dem „Innen“ und dem „Außen“) hergestellt ist, befinden wir uns auf einer Stufe kognitiver Wahrnehmung! Bei körperlichen Dingen erfolgt hier bereits die Benennung des Gegenstandes („Baum“)
Kontakt ist die Bedingung für das
Entstehen von Gefühl (vedana)
Ein oft missverstandener Begriff. Mit Gefühl gemeint ist weder die Empfindung an der Körperstelle, von der ein Reizimpuls herrührt (also z.B. am Finger, wenn ich mir den Finger verbrannt habe), noch irgendeine diesbezügliche Emotion. Gemeint ist lediglich das Gefühl, das in unserem Körper (Solarplexus) dadurch entsteht, dass das Gehirn (der Parasympathikus) z.B. Stresshormone ausschüttet (vergleiche etwa den berühmten Schreck, der uns in die Glieder fährt, oder das „komische Gefühl in der Magengegend“, das wir alle kennen). Man unterscheidet grundsätzlich drei Arten von Gefühl: behaglich, unbehaglich oder weder behaglich noch unbehaglich (neutral). Letzteres kann hier einstweilen unbeachtet bleiben.
Gefühl ist die Bedingung für das
Entstehen von Begehren (tanha)
Wenn dieses Gefühl entstanden ist, dann „verlinkt“ unser Gehirn die von ihm erkannte Ursache des Gefühls mit dem Gefühl selber. Erst dann nehmen wir eine ablehnende oder wohlwollende Haltung gegenüber diesem Gefühl ein, das „Ich mag“- oder „Ich mag nicht“- Bewusstsein entsteht. Dies nennt der Buddha Begehren, welches demnach positiv oder negativ sein kann. Und an dieser Stelle tritt zum ersten Mal in der Kette ein „Ich“ auf den Plan. Begehren findet immer Ausdruck als Spannung, Verengung oder Verkrampfung im Kopf und im Körper (eben jenes berühmte: „Es ziehen sich mir die Magenwände zusammen!“ oder „Das bereitet mir Kopfzerbrechen“)
In Begehren liegt immer ein Widerstand gegen das, was jetzt-hier ist. Wir wollen, dass die Dinge anders sind, als sie tatsächlich sind, und diese Diskrepanz zwischen dem Ist- und dem Sollzustand erzeugt Spannung; diese Spannung ist als Verkrampfung spürbar in unserem Kopf und unserem Körper. Verkrampfung ist die physische Manifestation von Begehren.
Begehren ist die Bedingung für das
Entstehen von Anhaften (upadana)
Anhaften wird meist verstanden als das Festklammern an etwas. Das ist zwar nicht ganz falsch, aber recht unpräzise.
Definition:
Anhaftung ist jede intellektuelle Auseinandersetzungmit „Ich“-Bezughinsichtlich eines unpersönlichen Vorgangs, den wir uns so zu „eigen“ machen.
In der englischen Sprache gibt es zwei Begriffe, die miteinander verwandt sind, aber eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben. Die Begriffe sind „History“ und „Story“. An der Stelle der Anhaftung wird endgültig aus unpersönlichen Vorgängen, aus reinen Prozessen (aus der komplexen und völlig unpersönlichen sinnlichen Wahrnehmung entsteht ein Gefühl und aus der Ablehnung dieses Gefühls entsteht Begehren) – also einer History – eine Story, eine persönliche Geschichte. Und erst, wenn wir Dinge persönlich nehmen, entstehen Emotionen wie Wut, Ärger u.s.w. Wir betrachten das Ereignis als Teil von uns, und da wir uns (unter anderem) über unsere ‚persönliche’ Geschichte definieren, liegt hier auch der Urgrund und das Wachsen unseres EGO, unserer gedanklichen Persönlichkeit: „DAS BIN ICH!“
Anhaften ist die Bedingung für das
Entstehen der Tendenz zum gewohnheitsmäßigen Handeln
(bhava; bedeutet eigentlich „Werden“)
Wenn wir uns an einer Situation festbeißen und sie „persönlich nehmen“, handeln wir gewissermaßen immer „auf Knopfdruck“. Prinzip: „Das kenne ich schon, also handele ich so und so“. Es ist, als gingen wir immer durch dieselbe Tür, sobald uns eine Situation vertraut vorkommt. Dies passiert natürlich nicht bewusst, und somit handeln wir immer jeder neuen Situation entsprechend unangemessen, da wir ihrer Einzigartigkeit nicht Rechnung tragen. Dies ist stereotypische Re-Aktion statt intuitive und frische Aktion
Und es entsteht hier das Konzept, das Bild von uns, unsere Persönlichkeit, die wir schützen und verteidigen müssen, weil wir dieses gedankliche Konstrukt für uns selbst halten – dabei sind wir lediglich unsere eigene Interpretation.
Tendenz zum gewohnheitsmäßigen Handeln ist die Bedingung für
Geburt (des Ego)
An dieser Stufe angekommen gehen wir nun endgültig von einem dauerhaft Bestand habenden „ICH“ aus, welches sich unaufhörlich von außen in seiner Existenz bedroht sieht und getrieben ist vom Drang der Arterhaltung.
Wir unterliegen dem grundsätzlichen Trieb der Art- und Selbsterhaltung. Unser EGO treibt uns daher an, den ständigen Kampf aufzunehmen und immer besser zu sein, als der Andere. In dem Moment, da wir diesen Druck loslassen können, entschärft sich unsere gesamte Lebenssituation
Geburt (des Ego) ist die Bedingung für Tod,
Kummer, Klagen, Schmerz, Trauer und Verzweiflung
Das so genannte „Ego“ (die Ich-Identifikation mit unserem Besitz, aber auch mit unserem Charakter, unseren Strukturen, unserer Vergangenheit etc) kann nicht loslassen. Es muss sich über irgendetwas definieren, damit es existieren kann. Alles aber, womit es sich identifizieren und über das es sich definieren kann, ist vergänglich. Schließlich auch wir selbst. Alles an und in uns stirbt früher oder später. Dies ist die Ursache für Kummer, Klagen … es sei denn, man durchbricht auf Grundlage der Erkenntnis (vipâssana) diese Kette – und nimmt die Dinge und sich selbst nicht mehr „persönlich“ 😉
[1] So Bikkhu Bodhi, einer der bekanntesten Lehrer des Buddhismus