„Vergeben und Vergessen“ – Teil 1

„Vergeben und vergessen“ – die Magie des Hier und Jetzt

„Willst Du dem Pfad der Heiligen folgen,

so lerne zuerst Vergebung.“

(Sufi-Meister Hazrat Inayat Khan)

 Wohl kaum jemand von uns wird ernsthaft behaupten können, es gäbe niemanden in seiner persönlichen Geschichte, der ihm je körperlichen oder seelischen Schmerz zugefügt hätte. In aller Regel heilen kleine Wunden schnell – man verzeiht dem anderen, weil er eingesehen hat, dass er etwas getan oder gesagt hat, was er nicht hätte tun oder sagen sollen; oder man klärt die Situation in einem Gespräch.

Wie aber kommt es dazu, dass immer einmal wieder auch ein bitterer Nachgeschmack bleibt, bis hin zu einem „Das kann und werde ich Dir niemals verzeihen!“

Eine grundlegende Handlungsmotivation eines jeden Lebewesens ist der Drang nach Art- und Selbsterhaltung. Vor allem der Selbsterhaltungstrieb setzt ein Streben nach Schutz und Sicherheit frei, und eine Fähigkeit, die diesem Streben zur Seite steht, ist die Fähigkeit zu lernen. Diese ausgesprochen nützliche Fähigkeit hat jedoch, wie so vieles, auch seine Kehrseite: Die meisten Lernprozesse, durch die wir gehen, passieren unbewusst, das bedeutet, ich habe keinerlei Einfluss darauf, ob und was ich aus einer Situation lerne. Wir unterliegen alle zunächst einmal dem gleichen Prinzip wie der „Pawlow’sche Hund“. Wenn ich mit dem Finger auf die heiße Herdplatte fasse, dann tut das weh, also lasse ich das besser.

Vom Grundprinzip her ebenso funktionieren wir auf Ebene der Erfahrung, die wir mit anderen Menschen machen. Wenn eine Herdplatte rot glüht, dann klingeln bei uns die Alarmglocken, und ähnliches kann passieren, wenn wir einen bestimmten Menschen sehen – wir wittern Bedrohung und Gefahr. Das ist ein uraltes Muster der Menschheitsgeschichte und, wie so vieles, was die Evolution sich „ausgedacht“ hat, für sich genommen sehr sinnvoll, denn es vermag uns vor Schmerz oder Schlimmerem zu bewahren.

Nun ist das, was da eben (natürlich sehr knapp) beschrieben wurde, recht instinktiv und betrifft Menschen wir Tiere zunächst einmal gleichermaßen. Worin liegt nun die Besonderheit beim Menschen? Die Besonderheit liegt im Begriff „Leid“.

Leid ist die dem Prinzip von Zeit unterstellte psychologische Komponente von Schmerz.

Anders ausgedrückt: Leid ist nicht Schmerz, sondern das, was wir aus dem Schmerz machen. So ist Leid jedes Zurückholen von vergangenem Schmerz in den gegenwärtigen Moment, jedes Hineinholen von künftigem Schmerz in den gegenwärtigen Moment. Und hier liegt das Problem: Einem Menschen nicht verzeihen können bedeutet immer, im gegenwärtigen Moment unter einem Schmerz zu leiden, den der andere mir zwar angetan hat, der aber längst vorbei ist. Solange ich in dieser Erinnerung lebe und dem anderen dessen Verhalten nachtrage (man lasse den Begriff einmal auf sich wirken), leide ich weiter unter dieser Vergangenheit, unter dieser Erinnerung, unter etwas, was nicht existiert. Und: Ich verknüpfe dieses schmerzhafte Erlebnis mit diesem Menschen. Damit verweigere ich mich der Einsicht, dass alle Dinge grundsätzlich im Wandel sind, sich verändern. Jemandem verzeihen heißt also hier auch soviel wie: Darauf vertrauen, dass er mir einen Schmerz nicht noch einmal zufügt. Hier ist auch wieder die zeitliche Komponente sichtbar. Verzeihen wir nicht, dann holen wir einen (möglicherweise) eintretenden Schmerz aus der Zukunft in die Gegenwart, aus Angst vor künftigem Schmerz.

Wenn ich völlig im gegenwärtigen Moment bin, in welchem weder Schmerz noch Bedrohung noch Gefahr unmittelbar vorliegt, dann „lasse ich die Luft“ aus meinen schmerzhaften Erinnerungen. Ebenso, wie ich auf die Herdplatte nicht böse bin, weil ich mich an ihr verbrannt habe, werde ich auf den anderen Menschen nicht mehr böse sein, an dem ich mich verbrannt habe. Das bedeutet nicht, dass ich nicht vor beidem auf der Hut sein soll, aber ich nehme den emotionalen Aspekt heraus, indem ich diesen einfach loslasse, ihn nicht persönlich nehme, das Geschehene nicht zu einem Teil von mir werden lasse, sondern es betrachte als das, was es war: Schmerz. Und der ist nun vorbei.

Wenn ich mich auf diese Art dem jetzigen Moment hingebe, bleibt kein Raum für Wut und Hass. Ein solches erhabenes (= aus einer höheren Warte aus betrachtendes) Bewusstsein nimmt jede Restspannung aus jedem vergangenen Konflikt. Und der Zustand von mentaler Ent-spanntheit ist der Zustand von Frieden. „Dem Pfad der Heiligen folgen“ heißt auch FRIEDEN finden.

Zusammengefasst und mit etwas anderen Worten liegt Vergebung unmittelbar in der Hingabe an den jetzigen, den gegenwärtigen Moment. Vergebung ist notwendige Konsequenz des Verweilens im Jetzt-Hier. Und Meditation hilft uns dabei, immer wieder einmal „aufpoppende“ alte Hass- und Wutgefühle, mentale Spannungen und Verkrampfungen, loszulassen. In den Dhammapada, heiligen Schriften des Buddhismus, heißt es:

„Beraubt bin ich, besiegt, geschlagen und geschändet“,
Solange man so denkt, wird Hass niemals beendet.
„Beraubt bin ich, besiegt, geschlagen und geschändet“,
Wenn man so nicht mehr denkt, dann ist der Hass beendet.
Hass wird durch Hass niemals überwunden und gestillt;

Hass wird nur durch Liebe überwunden‘ – ein ewiges Gesetz, ein Satz, der immer gilt.“

 Nun, bislang ging es ja darum, wie es sich verhält, wenn jemand mir etwas angetan hat. Was aber, wenn jemand mir etwas nicht angetan hat. Die Rede ist von Enttäuschungen.

Im Grunde bedarf dieses Thema keiner gesonderten Betrachtung. Das Prinzip lautet gleichermaßen: Jemand hat mir einen (meist mentalen) Schmerz zugefügt, ich projiziere diesen Schmerz auf die Person des anderen, hasse ihn dafür und lasse den Schmerz in meiner Erinnerung fortbestehen, indem ich den Schmerz „persönlich nehme“, ihn zu einem Teil von mir werden lasse. Ich leide und rechne dem anderen dieses Leid zu.

Eine Besonderheit gibt es aber dennoch: Im Vordergrund steht hier eine Erwartungshaltung, die jemand anders nicht bedient hat. Derjenige, der die Messlatte und auch das Richtbeil in der Hand hat, bin also ICH. Das bedeutet: Wenn jemand meinen Erwartungen nicht entspricht, dann kratzt das noch weitaus mehr an meinem „Ehrgefühl“, an meiner „Persönlichkeit“. Das Persönlichnehmen steht also sehr im Vordergrund. „ICH will, dass die Dinge so laufen, wie ICH sie erwarte. Und da das nicht der Fall ist und ich auch nicht die Kontrolle über andere Menschen ausüben kann, bin ich jetzt wütend, traurig, verzweifelt, enttäuscht“.

Was aber legitimiert uns, die Messlatte anzulegen, den Stab über den anderen zu brechen und auf ewig zu stigmatisieren? Sicherlich kann der andere gar nicht aus seiner Haut, er hat vielleicht aber sogar sein Bestes gegeben, unsere Erwartung zu erfüllen, und vielleicht leidet der Andere sogar selbst darunter, dass es ihm nicht gelungen ist. Wer fragt danach? Was gibt uns das Recht zu unterstellen, dass dem nicht so ist? Es sind unsere alten Ego-Strukturen, die auf bereits erwähnte Art- und Selbsterhaltung gerichtet sind, sich aber allzu oft an einer Stelle manifestieren, wo sie nicht hingehören.

Buddha lehrt das Prinzip des nicht persönlich Nehmens. Dinge passieren. Und Dinge passieren immer, weil die Umstände vorlagen, die zu ihrem Eintreten geführt haben – als Kausalkette, die in die Anfänge des Seins zurückreicht (wo immer die auch liegen mögen). Der Stand der Kausalkette ist immer JETZT, und wenn ich mich dem Jetzt vollständig hingebe, verliert der Ich-Dünkel seine Kraft. In der Hingabe an das Jetzt-Hier liegt Friede, liegt Harmonie, die In-sich-Stimmigkeit des Kosmos; in diesem Zustand bewusst SEINS ist auch niemand mehr da, der Erwartungshaltungen aufbaut, weil jetzt-hier alles ist, wie es ist – der gegenwärtige Moment ist immer vollständig, nichts ist zuviel, nichts zu wenig. Selbstverständlich wäre es schön, wenn dieser zur Beerdigung des Verwandten kommen würde, oder jener mir sein Auto für meinen Großeinkauf leihen würde, oder noch ein anderer mir bei der Fahrradreparatur helfen würde – tut die Person es nicht, dann ist der gegenwärtige Moment, die Situation, in der ich mich jetzt-hier befinde, immer die Wahrheit des jetzigen Moments. Und im nächsten Moment ist das bereits wieder Geschichte. Damit sind wir wieder bei der Magie des Hier und Jetzt.

Ich spreche hier im Grunde von einem Perspektivwechsel, von: „Dieser Mensch ist doof, weil er mir sein Auto nicht leiht“ hin zu: „Ich habe jetzt kein Auto zur Verfügung, und das ist ok, denn es ist die Wahrheit des jetzigen Momentes!“ Nehmen wir die Handlung des Anderen persönlich, dann entsteht Enttäuschung, und zwar als ein Gefühl der Trauer und vielleicht der Wut. Nun ist nicht jeder dazu imstande, die alten Strukturen zu durchbrechen und Dinge „einfach“ nicht persönlich zu nehmen. Nun, und wenn? Auch Trauer und Wut sind dann die Wahrheit des jetzigen Momentes, also macht es auch keinen Sinn, sich gegen diese zu wehren. Nimmt man sie an, dann verschwinden sie, die Spannung und Verkrampfung löst sich in uns, und in dem Moment tritt Verzeihung ein.

Das alles bedeutet nicht, dass es keine Korrektive für „soziales Fehlverhalten“ geben soll! Wir leben nicht in einer Welt von Erleuchteten, und solange das nicht der Fall ist, ist es auch erforderlich, die Gesellschaft gewissermaßen im Zaum zu halten, um zu verhindern, dass der eine dem anderen den Schädel einschlägt. Daher steht das spirituelle Bewusstsein des Vergebens den Vorschriften des Strafgesetzbuches nicht entgegen. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist“ – Ich kann gleichzeitig den Fahrraddieb anzeigen, damit er nicht dem Schaden zufügt, der darunter leidet (also jemandem, der nicht so einfach loslassen kann); und ich kann ihm gleichzeitig verzeihen und ihm liebevolle Gedanken senden (da ich vielleicht gelernt habe, loszulassen).

Vergebung ist kein aktiver Prozess; ich kann mich nicht dazu zwingen, jemandem zu verzeihen. Aber ich kann Frieden schließen mit mir selbst und hierdurch die Spannung und Verkrampfung aufheben, die aus der Diskrepanz zwischen Ist- und Sollzustand entsteht.

 Oh Friedensstifter! Bevor du versuchst,

rings in der Welt Frieden zu stiften,

schaffe erst Frieden in Dir selbst.

(Sufi-Meister Hazrat Inayat Khan)

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2 Kommentare

  1. Ein schöner Artikel. Mich hat das Zitat am Ende sehr bewegt. So ist es.

    Antworten
    • Hey Meike,
      oh ja, auch mich hat das Zitat sehr bewegt, als ich es das erste Mal las. Überhaupt finde ich bei den Sufis immer wieder wundervolle Dinge – Weisheiten, Sinnsprüche. Eigentlich widme ich mich dem viel zu wenig … wie so vielem 🙂 Aber der Tag hat nur 24 Stunden … 😉
      METTA & Smiles

      Antworten

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