Ich möchte nach einer langen Blog-Pause heute einmal einen Artikel aus dem wirklichen Leben posten, nämlich eine Korrespondenz mit einem meiner Schüler, der eine Mail mit sehr wichtigen Fragen stellte, die die buddhistische Vipâssana-Meditation angehen. Insbesondere geht es um das Thema „Loslassen“ und „Liebevolle Annahme“, Nicht-Ich (anatta) und den „Kontrollfreak“ in uns. Da diese Themen ganz fundamental für Meditation und Alltag sind, möchte ich sie mit der Öffentlichkeit teilen (schwarz sind die Fragen, lila meine Antworten).
Damit Ihr folgen könnt und wisst, worum es geht, hier noch einmal der BLESSED-Kreis, den es gilt, sowohl in der Meditation als auch im Alltag unablässig zu durchlaufen, sobald man merkt, dass man nicht „im Hier und Jetzt ist“. (Näheres zu diesem Kreis findet Ihr hier auf diesem Blog)

Es begann mit einer Schilderung, wie F. (für Fragender) mit einigen schwierigen Alltagssituationen umgeht, indem er den BLESSED-Kreis durchläuft. Meine Antwort hierzu war:
Es ist Klasse, wenn es Dir gelingt, den BLESSED-Kreis in solchen Momenten zu durchlaufen; denke nur auch immer daran, dass BLESSED keine „Schmerztablette“ ist. Betrachte, was in Dir geschieht, und was immer es ist, VERSUCHE NICHT ES LOSZUWERDEN. Versuche, es zu verstehen. Lass es da sein und betrachte ganz genau, wie (aus alter Gewohnheit heraus) Du dazu tendierst, Dich mit den Emotionen zu identifizieren. Schau, welche Gedanken durch sie ausgelöst werden, und welche Gedanken sie umgekehrt auslösen – papanca! Schau, wie es sich körperlich anfühlt. Betrachte Deinen inneren „Kontrolleur“, der Dir sagen will, dass die Dinge anders zu sein haben, als sie sind, nämlich so, wie „er“ es will und für richtig hält. Und betrachte einmal dieses „er“ … und gehe dem auf den Grund, was „er“ ist. Nicht intellektuell, sondern durch Beobachtung. Und versuche ebenfalls nicht, diesem „er“ den Mund zu verbieten. Hör Dir LIEBEVOLL an, was er zu sagen hat … diskutiere nicht mit ihm, lass ihm seine Meinung – er kann nicht anders als so zu denken, wie er denkt. Aber wie er denkt, fügt Dir mentalen Schmerz zu – verzeih ihm dafür. Verzeih ihm aus dem Verständnis und der Einsicht heraus, WAS „er“ ist. Nimm ihn in den Arm und nimm ihn liebevoll an.
„Er“ wird sich fast zwangsläufig dagegen wehren, weil „er“ das Gefühl hat, nicht ernst genommen zu werden. Gestehe es ihm zu, hab Mitgefühl mit ihm. „Er“ wird Dich bombadieren mit Zweifeln – über Deine ganze Praxis. Lass ihn! Es ist ok! Vergib ihm, nimm ihn liebevoll in den Arm, schließe ihn in Dein Herz – mitfühlend und verständnisvoll.
Im Folgenden nun die Antwortmail von „F.“ und meine unmittelbaren Antworten:
Ich verstehe, dass der BLESSED-Kreislauf nicht als Schmerztablette einzusetzen ist, mit dem man die leidvollen Gedanken bzw. Emotionen eliminiert. Es geht darum, diese leiderzeugenden Vorgänge als solche zu erkennen und zu verstehen, nach welchen alten Mustern der eigene Geist arbeitet.
Hmmmm … Ja. Und Nein *smile*
Es geht darum klar zu sehen, dass da zunächst überhaupt erst einmal nur Vorgänge, Abläufe und Prozesse (erst im „Außen“ [Geräusch trifft auf Ohr], dann in der Folge in uns [das Geräusch „kommt uns zu Bewusstsein“]) stattfinden.
Wir befinden uns also im Bedingten Entstehen: Sinnesreiz + Sinnenbewusstsein sind Grundlage für das Entstehen von behaglichem oder unbehaglichem (oder neutralem) Gefühl; behagliches oder unbehagliches (und eigentlich auch neutrales) Gefühl ist die Voraussetzung für das Entstehen für Begehren; Begehren ist die Voraussetzung für das Entstehen von Anhaftung.
Bis zum Begehren inklusive handelt es sich nicht um Muster im psychologischen Sinne, sondern um reine neurologische Vorgänge gemäß dem Reiz-Reaktions-Schema, also Reizübertragungen.
Dann erst – ab dem Anhaften – erkennen wir, wie aus einem unpersönlichen neurologischen Reiz plötzlich das entsteht, was wir Leid nennen. Leid ist das, was entsteht, wenn wir aus einem unpersönlich entstandenen Gefühl eine persönliche Story machen, indem wir
1 . über das entstandene Gefühl und über das, was es ausgelöst hat (und einiges mehr) nachdenken und
2 . diesem entstandenen Gefühl einen Namen geben, nämlich „Wut“, „Trauer“ u.s.w.; auf diese Weise wird aus einem real entstandenen Gefühl ein Konzept, also etwas Nicht-existentes!!! Dieses Konzept können wir in unser Selbst-Konzept integrieren. Da es dann als zu uns gehörig interpretiert wird, denken wir wiederum darüber nach.
Zudem sehen wir, wie in der Anhaftung aufgrund der gedanklich-emotionalen Beschäftigung mit dem Gefühl Feedbacks entstehen, also zB neue Gedanken, die dann neue Gefühle auslösen und wieder Begehren, welches selbst als Spannung (= unangenehme Körperempfindung) wahrgenommen wird und darüber wieder zu Gefühlen führt und so weiter und so fort. Diese gesamten Feedbacks nennt der Buddhismus „papanca“.
Und wir sehen, dass wir auf all diese Vorgänge in ihrem ersten Entstehen keinen Einfluss haben. Der Versuch, Einfluss zu nehmen (nämlich in erster Linie auf das Gefühl), kommt erst im Rahmen der Anhaftung zum Tragen. Die Anhaftung ist also – wenn man so will – unser „Problemlösemodus“. Wir versuchen, über unsere Gedanken das Gefühl zu beseitigen, verstärken es aber nur, indem wir ihm Aufmerksamkeit schenken. Und da sitzen auch die alten (psychologischen) Muster: Wir glauben, durch Nachdenken und Analyse die Kontrolle über die Ursache des unangenehmen Gefühls gewinnen zu können. Das ist der „Kontrollfreak“ in uns. In der Realität aber können wir nur einen Bruchteil dessen, was uns unangenehmes Gefühl beschert (oder angenehmes Gefühl „wegnimmt“) kontrollieren. In der vipâssana-Meditation lassen wir diesen Kontrollfreak so zu sagen ins Lehre laufen – wir reagieren nicht auf ihn, sondern lassen die Dinge, gegen die er sich auflehnt, auf sich beruhen.
Während die „papanca“ im Rahmen des Bedingten Entstehens vom Anhaften aus gesehen „rückwärts gewandt“ sind, erkennt man im weiteren Verlauf des Bedingten Entstehens nach dem Anhaften (also „vorwärts gewandt“), wie unser Selbstkonzept entsteht und dieses Konzept unterhalten und gestärkt wird. Hier (erst) kommen die alten Muster zum tragen, gemäß welcher wir auf bestimmte Situationen immer nach dem gleichen Prinzip re-agieren. Re-agieren, weil unser Handeln aufgrund der alten Muster automatisch abläuft, in Abgrenzung zu einem Agieren, welches wissensklar (vgl. das Satipatthâna-Sutta) einzig dem gegenwärtigen Moment Rechnung trägt. Dies stets gleiche Handeln erweckt in uns den Eindruck einer Stabilität, von etwas Statischem, eines unveränderlichen „ICH“. Nach welchen alten Mustern genau der Geist arbeitet spielt eine nur untergeordnete Rolle; entscheidend ist, DASS es nur Muster sind und wie sich das auf uns auswirkt, nämlich in der Illusion eines substanziellen „ICH“ (welches zusätzlich genährt wird durch die Identifikation mit dem Körper, den Gefühlen … kurz: den 5 Aggregaten).
Mir scheint es, als hätte AKZEPTANZ eine Schlüsselfunktion. Es geht darum, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie nunmal jetzt sind und nicht zu versuchen sie loszuwerden.
Ja, in der Tat. Indem wir versuchen, sie los zu werden, schenken wir ihnen Aufmerksamkeit und Energie – dadurch verstärken sie sich. Im Japanischen gibt es den etwas martialischen Ausdruck „Töten durch Nichtbeachten“ (weiß leider nicht mehr, wie es auf Japanisch heißt *smile*); das ist in etwa, was hier geschieht. Mit einer Besonderheit (und dies ist wirklich ganz fundamental für die gesamte buddhistische Lehre): Was lassen wir los? Nur die Gedanken an das Ereignis, nicht das Ereignis selbst. Warum? Weil wir ein Ereignis nicht loslassen KÖNNEN. Ein Schmerz, Geräusch, Duft … ist da. Das resultierende Gefühl … ist da. Das resultierende Begehren … ist da (erst in den höchsten meditativen Zuständen kann die Kette des Bedingten Entstehens bereits an einer dieser Stellen durchschnitten werden)
Ich denke, dass dem „Er“, von dem du sprichst, dadurch der Wind aus den Segeln genommen wird, da man auch das ganze Negative im jetzigen Moment annimmt und akzeptiert.
Das Negative im jetzigen Moment Annehmen entspricht genau diesem oben beschriebenen Vorgang. Loslassen (und den Kontrollfreak „vor die Wand laufen lassen“ *smile*) IST gewissermaßen Liebevolle Annahme.
Ich habe das „Loslassen“ im BLESSED-Kreislauf in einigen Situationen falsch interpretiert im Sinne von „Nun lass es endlich los!“
Das ist in der Tat falsch interpretiert *smile*
Vielmehr ist damit wohl das Akzeptieren aber gleichzeitig NICHT Anhaften gemeint.
Ok, also: Loslassen ist das diametrale Gegenstück zum Anhaften. Das bedeutet: Wenn Anhaften das gedanklich-emotionale Sich-verwickeln-lassen in ein Ereignis ist, dann ist Loslassen eben das Nichtweiterdenken jenes Ereignisses. Mehr steckt nicht hinter dem vielgerühmten Loslassen. Die einfache Formel:
Loslassen ≙ Liebevolle Annahme ≙ Infriedenheit / Anhaften ≙ Widerstand ≙ Leid
Ich habe in letzter Zeit im Alltag häufig BLESSED angewendet. Habe im Anschluss immer noch einen Metta-Wunsch in mir zum entstehen gebracht. Gerade „Möge mein Geist ruhig und friedvoll sein“ erzeugt in mir gleich eine leichte Entspannung.
Das ist auf jeden Fall gut und richtig 🙂
Aber wenn ich das Gefühl von innerem Frieden und Lächeln in mir erzeuge lasse ich beispielsweise dem Gefühl „Angst“ oder „Wut“ weniger Platz in mir. Ist es nicht so, dass ich diese Gefühle dann im gewissen Maße verdränge und ihnen nicht ausreichend Platz einräume? Das widerspricht in meinen Augen dem Denkansatz „Wut ist da. Hey, es ist o.k.!! Wut darf das sein.“ Andererseits kann es ja auch nur gut sein, wenn ich über den Metta-Wunsch mehr Gelassenheit in mir verspüre…..!?
Nein, Du verdrängst gar nichts. Weil Du das Gefühl der Wut selbst ja gar nicht anlangst. Verdrängung bedeutet „Ins Unbewusste verschieben und verhindern, dass es wieder hervortritt“. Das geschieht, wenn man unmittelbar nach dem Feststellen eines negativen Gedanken zum Meditationsobjekt zurückkehrt und sich auf das Meditationsobjekt fokussiert und absorbiert. Wir hingegen machen uns im BLESSED einen Mechanismus des Gehirns zunutze: Beobachte einmal, was geschieht, wenn Du von einem Gedanken fortgetragen worden bist und Dir dessen bewusst wirst. Was geschieht in der Sekunde, da Du diesem Gedanken Auge in Auge gegenüberstehst? Der Gedanke kommt für einen Augenblick zum Stoppen und die Aufmerksamkeit sucht sich etwas anderes, womit sie sich beschäftigen kann. Dies ist immer das Naheliegendste, was eben da ist, und zwar irgendetwas, was sich „bewegt“ im Sinne von verändert. In diesem Atemzuge kommt die Aufmerksamkeit ganz leicht und fast von allein wieder in den gegenwärtigen Moment und zieht sich von dem Gedanken zurück. Das geschieht – noch einmal – NICHT durch eine Aktion des Praktizierenden, sondern durch das alleinige Sichbewusstwerden des „Nicht auf dem Meditationsobjekt Seins“.
Das Entspannen und Lächeln hilft dabei (in der Art einer reziproken Hemmung), dass die negativen Gedanken erst einmal nicht wieder auftreten. Sitzen sie aber tief, werden sie trotzdem wiederkommen … und irgendwann sich auflösen. DANN sind sie verarbeitet.
Zudem motiviert das Entspannen und Lächeln dazu, dem alten Muster des „dem Gedanken Nachgebens und Weiterdenkens“ (= Anhaftens) nicht zu folgen, da der Organismus merkt: „Aha, es fühlt sich viel besser an, NICHT anzuhaften“ – das ist positive Konditionierung durch Aktivierung des Belohnungszentrums im Gehirn.
In der vipâssana-Meditation lernen wir also systematisch, nicht anzuhaften. Das Aufgeben des Anhaftens ist aber eine enorm schwierige Übung, eben weil unsere alten Muster alte und eingefahrene Muster sind, die ja selbst auch Objekt der Anhaftung sind – indem wir uns mit ihnen identifizieren. Daher hat der Buddha als Grundlage des Aufgebens des Anhaftens die (zunächst rationale) Erkenntnis von Nicht-Ich (anatta) gesetzt. Denn diese Erkenntnis hebelt auch den letzten Widerstand aus. Selbst der verzweifeltste Depressive, der da sagt: „Das bringt doch alles nichts! Ich kann nicht loslassen! Ich bin und bleibe traurig!“ wird diese Ansicht aufgeben, wenn er sieht, dass dies nichts weiter als Ansichten sind, entstanden aus „papanca“, und die wiederum aus völlig unpersönlichen Vorgängen. Es steckt niemand „hinter“ diesen Ansichten – es sind nur bedingt entstandene Gedanken, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Auf diese Weise wird er sich fragen: „WER leistet denn da Widerstand? WER ist denn da traurig? WER zweifelt denn da an der Lehre des Buddha? Es ist niemand zuhause. Ich kann Kummer, Klage, Sorge, Leid, Trübsal und Verzweiflung einfach loslassen, weil da unterm Strich niemand ist, der all das empfindet.“
Mmh, das ist mit so einem westlichen Gehirn echt nicht leicht zu verstehen! 😉 Man ist bis jetzt häufig darauf bedacht gewesen, sich vor negativen Gedanken und Emotionen zu schützen und jetzt soll man genau diese leidbringenden Objekte akzeptieren.
Noch einmal: Wir akzeptieren zunächst nicht die Erscheinungen, sondern unsere Reaktion auf sie, erkennen sie als Nicht-Ich, als reine Reaktions-Muster, die unser Leid erschaffen. Erst in der Konsequenz schließen wir Frieden mit den Erscheinungen, weil wir dann nämlich erkennen, dass es nicht die Erscheinungen sind, die uns Leid zufügen, sondern unsere Reaktion auf die Erscheinungen. Und die können wir loslassen, denn sie sind ja nicht ICH.
Ich meine langsam zu verstehen, dass sie sich genau dadurch auflösen, da der Geist irgendwann keine Lust mehr hat, wenn man nicht ständig mit ihm diskutiert und versucht zu widersprechen.
Hahaha …. Darauf würde ich mich nicht verlassen ;). Zunächst einmal diskutieren wir ja nicht mit unserem Geist. Das hieße den Teufel mit dem Belzebub austreiben. Wir beachten ihn einfach nicht mehr, wenn er „zickt“ oder böse oder eifersüchtig wird. Es ist für uns in dem hohen Stadium der Erkenntnis von Nicht-Ich, als würde sich all das, was sich in unserem Geist abspielt, auf einer Kinoleinwand abspielen – ich kann es wahrnehmen, aber es ist nur ein Film. Der Mörder, der aus der Kinoleinwand heraus auf mich schießt, kann mich nicht verletzen. Wir brauchen also nicht den Filmprojektor zu zerstören; es reicht völlig aus, den Film als das zu würdigen, was er ist: Ein Film. Ebenso verfahren wir mit unserem Geist. Lass den Film einfach laufen … macht doch nichts. Im Gegenteil: Auf diese Weise kann sogar ein Krimi oder Drama oder Ähnliches erheiternd sein. Und das wollte der Buddha! Schau Dir mit freudvollem und heiterem Interesse an, was sich in Deinem Oberstübchen abspielt – und mach Dir nichts draus (sprich: Mach nicht mehr daraus als es ist, nämlich ein Film).
Ich hoffe, Ihr konntet ein wenig aus diesem Artikel für Euch und Eure Meditation herausziehen.
Von Herzen sendet Euch METTA & SMILES
„Phra“ Atishakaro (Michael) _/\_